Mittwoch, 9. September 2015

Befreiung oder Evakuierung?

Wenn es eine unerschütterbare Tatsache zum ehemaligen KL Neuengamme gibt, dann ist es das Fakt, dass dieses Lager NICHT befreit wurde. Eigenartigerweise ist das aber offenbar nicht jedem klar. Denn selbst die Gedenkstätte Neuengamme ist dabei etwas wankelmütig, wenn sie in ihrem aktuellen Ausstellungskatalog immer noch von einer Befreiung spricht; gleichfalls wie auf einer Schautafel beim Mahnmal.

Das KL Neuengamme ist das einzige Lager auf deutschem Boden gewesen, das nicht befreit wurde. Dafür gab es eigentlich keinen besonderen Grund. Es lag einfach an der geografischen Lage. Dieses am nordwestlichsten gelegene Konzentrationslager hatte die meiste Zeit um es vor erreichen der Alliierten zu räumen. Die Räumung begann Mitte April 1945 und war umgeben von mehreren scheußlichen Kriegsverbrechen.

Wann aber erreichte die britische Armee das Konzentrationslager Neuengamme?
Leutnant Charlton, ein Spähtruppführer im 53. Recce (Reconnaissance) Regiment, der als erster das geräumte Lager betrat, machte 1945 vor dem Ermittler Captain Freud eine schriftlich niedergelegte Aussage, die für den anstehenden ersten Prozess gegen Personal des KL Neuengamme als Beweisstück verwendet wurde. In dem Prozess sollte Charlton auch persönlich seine Aussage machen. Das Gericht hat dann aber auf sein Erscheinen verzichtet.

Charlton gab zu Protokoll: “Ich erreichte das Lager am Morgen des 5. Mai. So weit mir bekannt, war ich der erste alliierte Offizier der in dem Lager ankam.” Charlton schloss seine Aussage mit dem Satz: “Ich blieb vom 5. bis 9. Mai 1945 im Lager, und übergab es dann der Korpsführung, die es im Anschluss zu einem Kriegsgefangenenlager organisierte.”

Diese Aussage steht im Widerspruch zum Kriegstagebuch des militärischen Geheimdienstes. Dort ist vermerkt, dass das Lager Neuengamme am 2. Mai leer vorgefunden wurde. Diesen relevanten Teil des Kriegstagebuchs kann jedermann bei der Gedenkstätte Neuengamme selbst in Augenschein nehmen, und zwar an einer Schautafel an der Restmauer des ehemaligen Gefängnisses, in unmittelbarer Nähe zum Klinkerwerk - oder im Offenen Archiv.

Diese o.g. Fakten sind seit langem bekannt. Dennoch scheint es schwierig zu sein (was es auch ist) sich auf ein verlässliches Datum zu einigen. In der Literatur findet man beide Daten, manchmal auch den 4. Mai.

Die Lagergemeinschaft Neuengamme zitierte bereits 1960 in “So ging es zu Ende” das Charlton-Dokument. Detlef Hoffmann verweist ebenfalls in “Das Gedächtnis der Dinge/KZ-Relikte und Denkmäler” (1998) auf den 5. Mai für das Erreichen der Engländer im Lager, wie auch Katja Hertz-Eichenrode in “Ein KZ wird geräumt” (2000). Und Stefan Ineichen verweist weiterhin auf dieses häufig unbeachtete Datum in “Cap Arcona 1927-1945/Märchenschiff und Massengrab” (2015), sowie in einem subjektiven Zusammenhang zu den Verstrickungen des Unternehmens Oetker in der NS-Zeit (“Die Oetkers” von Rüdiger Jungbluth, 2004). Selbst der Hamburger Senat nimmt in einer Pressemitteilung von 2002 Bezug auf den 5. Mai. Die Gedenkstätte Neuengamme hingegen, wie bereits erwähnt, aktuell (2014) manifestiert den 2. Mai; dito Detlef Garbe in “Neuengamme im System der Konzentrationslager” (2015). Das ist ein kleines Wunder, denn 2002 vertrat Herr Garbe noch den 5. Mai! Es findet sich in der gesamten Neuengamme-Literatur also kaum ein Bezug zu der Aussage von Leutnant Charlton.

Es zeugt aber auch von einer gewissen Naivität zu glauben, dass wenn das Lager Neuengamme von der SS am 2. Mai 1945 endgültig (samt Häftlings-Restkommando) verlassen wurde, am gleichen Tag, nur wenige Stunden später, die britische Armee das Lagerareal erreicht haben soll.

Das deutlichste Indiz, das gegen das Erreichen der Engländer am 2. Mai 1945 spricht, ist die Aussage des ehemaligen Adjutanten von Neuengamme, Karl Totzauer. Auf die Frage des Rechtsanwalts Dr. Müller am 8. April 1946 im Neuengammer Hauptprozess, wann Totzauer das KL endültig verlassen habe, antwortete der Zeuge: “Ich rückte am 2. Mai gegen 10 Uhr abends ab.”

In den Kriegswirren Anfang Mai 1945 ist es auch wahrscheinlich, dass ein Übertragungsfehler in den militärischen Meldungen stattgefunden hat, bzw. bei der Übertragung der handschriftlichen Angaben in eine maschinegeschriebene Form.

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