Montag, 3. Oktober 2016

„1935 wurde der §175 erheblich verschärft“

Effekthascherei hat in der Gedenkstättenarbeit einen besonderen Stellenwert. Es werden Dinge behauptet, die entweder zu keinem Zeitpunkt stattgefunden haben, oder sich schlichtweg nicht beweisen lassen, oder aus dem Zusammenhang gerissen werden. D.h. es werden Lügen verbreitet, mit dem Ziel, den Gedenk-stättenbesuchern in eine Dramaturgie zu verführen, die das Leid der Betroffenen nochmals in eine Dimension befördert, aus der sich die Besucher nicht mehr befreien können, weil das was die Gedenkstätten-„Pädagogen“ den Menschen vermitteln, als etwas seriöses angenommen wird.

Am 1. Januar 1872 trat das deutsche Strafgesetzbuch in Kraft. Es beinhaltete bereits den Paragraphen 175, der zunächst bis zum 1. September 1935 seine Gültigkeit behielt.

Die Formulierung von §175 war folgendermaßen:
„Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“

Dieser §175 bezog sich, so lange er existent war, ausschließlich auf das männliche Geschlecht. Daran hat sich auch bis zu seiner Abschaffung im Jahre 1994 nichts verändert.

Weibliche Homosexualität war demnach nicht strafbar. Das ergibt sich auch daraus, dass Frauen im Dritten Reich immer noch unterprivilegiert waren. Tätigkeiten in gehobenen Stellungen waren relativ selten. Die klassische Unterdrückung des Feminismus wurde gesteuert von der Potenz des Maskulinen. In Nazi-Deutschland waren den „Weibern“ keine entscheidungsträchtigen Positionen zugedacht; sie kamen dafür überhaupt nicht in Betracht. Trotzdem werden Behauptungen aufgestellt, dass auch lesbische Frauen verfolgt worden wären und deshalb in Konzentrationslager gekommen sind, jedoch mangelt es dafür an Beweiskraft. Von Prostituierten ist das bekannt. Sie wurden als „asozial“ stigmatisiert; aus der Gesellschaft entfernt und in die Lager gesteckt, wo sie den Schwarzen Winkel erhielten.

Wenn anfangs davon die Rede war, dass Unwahrheiten in der Gedenkstättenarbeit verbreitet werden, so läßt sich diese Tatsache anhand von schriftlich niedergelegten Materialien belegen.

In einem Ausstellungstext bei der Gedenkstätte Neuengamme zu den unterschiedlichen Gruppen von Verfolgten im Dritten Reich heißt es: „1935 wurde der §175 erheblich verschärft.“ Einfach so. Ganz nackt und ohne Gummi. Keine Begründung; nix.

„Erheblich verschärft“ - was soll das eigentlich heißen? Diese Formulierung setzt eine drastische Verschärfung von §175 voraus.

Schauen wir uns nun diesen Paragraphen einmal genau an, der mit Wirkung ab dem 1. September 1935 „überarbeitet“ wurde und bis 1969 unverändert geblieben ist. Zur Erinnerung: Der Zweite Weltkrieg endete am 8. Mai 1945 und damit auch vorübergehend das deutsche Strafgesetz. Dennoch wurde der §175 mit Ausrufung der Bundesrepublik Deutschland 1949 zunächst beibehalten. Nach 1969 wurde die Voraussetzung für den Tatbestand von Unzucht präzisiert und das mögliche Strafmaß genauer beziffert.

Ein vermeintliches Nazi-Relikt geisterte also weiterhin im deutschen Strafgesetzbuch umher.

Die „erhebliche Verschärfung“ des §175 von 1935 im Reichsstrafgesetzbuch lautete folgendermaßen:
„(1) Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.
(2) Bei einem Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann das Gericht in besonders leichten Fällen von Strafe absehen.“


Das ist wirklich scharf! Es gab nicht das geringste Anzeichen einer gesetzlichen Verschärfung zum §175. Eigentlich wurde er sogar gemildert. Der Gesetztext ist praktisch identisch mit dem von 1872.

Das Strafgesetzbuch stellte zwischen 1935 und 1945 nicht wirklich etwas rechtliches dar. Denn wie in jeder Diktatur herrscht nur ein Gesetz - nämlich das der reinen Willkür!

Die Verfolgung der Homosexuellen im Dritten Reich ist schlimm genug für die Betroffenen gewesen. Sie kamen auch in die Konzentrationslager und erhielten dort den Rosa Winkel. Dieses Faktum ist unbestritten, obwohl diese Verfolgtengruppe ebenso in den Lagern leiden mussten, wurden sie von der BRD nicht anerkannt. Entschädigungsansprüche konnten offiziell nicht geltend gemacht werden, nichtsdestotrotz haben auch diese Verfolgten Zwangsarbeit geleistet.

Was hat jetzt aber die Gedenkstätte Neuengamme dazu verleitet eine solche Stupidität in ihrer Ausstellung zu manifestieren? Anhand der Ausstellungstexte läßt sich nicht ermitteln wer das zu verantworten hat. Niemand hat sich die Gesetzestexte überhaupt angeschaut. Es wird stattdessen mal wieder eine Verunglimpfung vorgenommen, die mit der Realität nicht in Einklang zu bringen ist.


Abschließend soll noch auf die Erweiterung von §175 eingegangen werden. 1935 wurde der Paragraph 175a eingeführt (1969 wieder abgeschafft). Weder bei der Gedenkstätte Neuengamme noch in der Literatur wird darauf Bezug genommen. Die Rede ist ausschließlich vom §175.

In der Enzyklopädie des Nationalsozialismus (1997) wird von einem der Autoren aus dem §175a wie folgt zitiert: „schwere Unzucht zwischen Männern“. Das ist alles. Mehr nicht. Diesen Wortlaut gibt es im kompletten Paragraphen nicht. Dass es in diesem Zusatzparagraphen um Gewalt, Zwang und Nötigung zu homosexuellen Handlungen geht, kapiert nicht nur dieser Autor nicht, sondern die gesamte Riege der Geschichtsforschung ist derart verblendet, dass sie es sich so hindreht wie sie es gerade braucht.

In diesem Zusatzparagraphen geht es also in der Tat um eine „Verschärfung“, die jedoch den Heterosexuellen vor Übergriffen schützen sollte. Inwiefern dieser Paragraph dann mit Verfolgung von Homosexuellen in Verbindung gebracht werden kann, ist nicht nachvollziehbar. Eine Verschärfung in diesem Zusammenhang läßt sich nicht erkennen.

Wenn die Wissenschaft von einer „Verschärfung“ des besagten Paragraphen spricht, dann muß dem auch eine unmissverständliche Erörterung folgen.

Zahlreiche Paragraphen im StGB hatten im Dritten Reich Zusatzparagraphen. Z.B. hatte §223 die Zusatzparagraphen 223a und 223b. Wird dann in einer wissenschaftlichen Arbeit über Körperverletzung referiert, und lediglich der Hauptparagraph 223 (physische Gewalt) dafür herangezogen, dann kann dadurch keine Verständlichkeit erreicht werden, indem die Zusatzparagraphen 223a (Gewalt mit einer Waffe) und 223b (Gewalt gegen Kinder) unberücksichtigt bleiben.

„1935 wurde der §175 erheblich verschärft“ - Faktisch ist das falsch. Und die Menschen dann mit einem solchen Satz allein zu lassen, das kann nur zu Missverständnissen führen.

So funktioniert wissenschaftlich-historische Aufklärung jedenfalls nicht. Also, zurück auf die Schulbank!