Montag, 1. Februar 2016

Die Ignoranz des Gedenkens - Das Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein würdiger Gedenkort geschaffen werden kann?

Beim ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme hat es 60 Jahre gedauert; beim Hannoverschen Bahnhof noch einiges länger. Wovon also ist es abhängig, dass vor allem Politiker es für angemessen erachten, einen Gedenkort für das ehemalige Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg zu bewirken?

Mehrere Organisationen, die sich als anti-faschistisch bezeichnen, allen voran die populistische VVN und die Linkspartei, machen reichlich Propaganda. Sie machen Front gegen Rechts, Antisemitismus etc. Bei derartigen Angelegenheiten der Neuzeit sind praktisch kaum Menschen wirklich zu Schaden gekommen. Aber wenn es so ist, dann wird kurzerhand ein Gedenkort eingerichtet. Ohne viel Bürokratie, einfach um zu zeigen, dass es auch anders geht.

Warum ist das jedoch beim Arbeitserziehungslager (AEL) Wilhelmsburg nicht möglich?

Das Gerichtsverfahren der britischen Militärjustiz 1948 hat offen dargelegt, dass im AEL Wilhelmsburg ebenso schreckliche Verbrechen an Leib und Leben von Häftlingen geschehen sind, wie anderenorts auch. Es waren auch nicht nur Deutsche, die dort „umerzogen“ werden sollten und Zwangsarbeit leisten mussten, sondern gleichfalls (mehrheitlich) Ausländer, wie z.B. Chinesen. Trotzdem tut sich die Hamburger Bürgerschaft bzw. der Hamburger Senat sehr schwer damit, diesen Opfern gerecht zu werden.

Ist das fair ?

Am ehemaligen Standort des AEL Wilhelmsburg dürfte es sehr schwierig werden, dort direkt an Ort und Stelle einen Gedenkort einzurichten. Einfach deswegen, weil dieses Areal in der Nachkriegszeit total überbaut wurde. Heute deutet nichts mehr daraufhin, dass sich dort am Langen Morgen (heute Eversween) ein nationalsozialistisches Arbeitslager befunden hat. Lediglich ein Schild gibt Auskunft über diesen Ort der Schande. Die Bundeszentrale für Politische Bildung in Bonn hat diesem Umstand immerhin schon 1995 in ihrem Doppelband „Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“ Rechnung getragen. Hamburgs Politik scheint das selbst nicht hinzubekommen.

2008 erschien eine überarbeitete Ausgabe eines Leitfadens „Hamburger Gedenkstätten“. Das AEL Wilhelmsburg ist da natürlich nicht drin zu finden, mangels Gedenkort. Es wird aber als „Stätte der Verfolgung und des Widerstandes“ erwähnt. Mit etwas mehr Sensibilität den Opfern gegenüber, hätten die verantwortlichen Autoren Kerstin Klingel und Detlef Garbe in dieser Publikation, die im Auftrag der Hamburger Bürgerschaft und Senat herausgegeben wurde, mit allem Nachdruck darauf hinweisen müssen, wo und was das AEL Wilhelmsburg eigentlich gewesen ist, und dass es für die Opfer keinen Gedenkort gibt. Aber damit hätte sich die Hamburger Politik vermutlich blamiert; und so hat man es lieber nicht thematisiert.

Die historische Aufarbeitung zum AEL Wilhelmsburg ist leider auch nicht von Lorbeeren gekrönt. Es gibt eine „jüngere“ Arbeit von Tobias Frank, die in Heft 8 der „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ 2004 veröffentlicht wurde. Für mein Empfinden ist sie jedoch zu oberflächlich geraten und ist geprägt von Hypothesen und Falschangaben. Der Autor bringt es weiterhin fertig, in einer Fußnote folgendes zu äußern: „Um den Umfang des Beitrags nicht zu sprengen, muss [!] leider auf eine eingehende Betrachtung der Gestapoleitstelle Hamburg, die verantwortlich für die Bewirtschaftung und Verwaltung [und Zwangsarbeit, und Misshandlung, und Schikanierung, und Mord …] des Lagers waren, verzichtet werden.“

So vermerkt dieser Autor ferner, dass das Höchstmass einer vom Militärgericht verhängten zeitigen Strafe 10 Jahre betragen habe. Das ist so nicht richtig. Zweimal wurde die Todesstrafe gefordert und verhängt, u.a. gegen den zuvor im Gefängnis Fuhlsbüttel tätigen Hilfswärter Fritz Ohlmeyer, der 1953 im Gefängnis von Werl zweimal einen Selbstmordversuch unternahm.

In diesem Zusammenhang ist es nicht anders als wie bei Zivilprozessen; das Strafmass muss bestätigt werden, damit es rechtskräftig werden kann. Insbesondere diese Kriegsverbrecherverfahren, und die damit verbundene Bestätigung von höchster militärischer Stelle, hat eine besondere Bedeutung, weil die militärischen Oberbefehlshaber über das letzte Dekret beim Strafmass verfügt haben, ohne jedoch selbst Jurist zu sein. Geleitet wurden sie durch eine Empfehlung eines studierten Rechtsberaters. Dessen ungeachtet haben sie sich wiederholt über einen juristischen Ratschlag hinweggesetzt. Genau so war es bei den Todesstrafen, die im Verfahren des Arbeitserziehungslagers Wilhelmsburg verhängt wurden. Die Todesstrafen wurden auf 15 bzw. 10 Jahre revidiert. Selbst ohne diese Todesurteile war das Höchstmass lebenslange Haft, wie für den damaligen Hamburger Leiter der Staatspolizeileitstelle Dr. Josef Kreuzer. Die höchste vergebene zeitige Haftstrafe war 20 Jahre. Der Autor hat es versäumt auf diese bedeutenden Umstände hinzuweisen. Und es ist auch nicht richtig, dass der letzte Verurteilte 1954 vorzeitig entlassen wurde.

Abgesehen von dem brutalen Schläger Julius Hungerberg, Jahrgang 1906, Katholik, der 1943 als Kriminalsekretär ins AEL Wilhelmsburg strafversetzt wurde (wegen Nudismus, und ein gutes Jahr später wegen wiederholtem Nudismus in Dänemark zu einer neunmonatigen Haftstrafe verurteilt wurde) und der im AEL-Verfahren nur eine fünfjährige Haftstrafe erhielt und im Herbst 1951 wieder in Freiheit kam, war die gröbste Fahrlässigkeit der britischen Militärjustiz in diesem Fall, der Sanitäter Hermann Schmidt; Prokurist im Zivilberuf und damals wohnhaft in der Sierichstraße in Winterhude.

Übereinstimmende Zeugenaussagen legen deutlich dar, dass dieser SS-Oberscharführer die Häftlinge unmenschlich, teilweise sogar grausam behandelt hat. Dennoch kam das Gericht zu dem Schluss, dass Schmidt nicht schuldig sei. In den meisten Prozessen der Alliierten, wo „medizinisches Personal“ der Lager angeklagt waren, gab es wiederholt empfindliche Haftstrafen. Bei Schmidt fand es offenbar Berücksichtigung, dass er schon im 1. Weltkrieg gedient hatte (Sanitäts-Uffz), und dass er gemäß der damals gültigen „Notdienstverordnung“ von 1938 auch im 2. Weltkrieg als Sanitäter dienstverpflichtet wurde (im AEL von Juni 1943 bis zum vernichtenden Bombenangriff des Lagers am 22.3.1945), obwohl er bei Dienstantritt im AEL bereits 48 Jahre alt war. Diese Solidarität der Engländer gegenüber einem SS-Schergen muss sich für die Opfer wie ein Stich ins Herz angefühlt haben.

Nachdem am 28.06.1948 Schmidts Freispruch erfolgt war, forderte er kurze Zeit später von der britischen Militärverwaltung eine Entschädigung für seine Untersuchungshaft in Höhe von 4200 Mark.

Nach Aussage eines chinesischen Häftlings im AEL, der Schmidt als „Lagerarzt“ bezeichnet hat, verhielt sich der von der Hamburger Ärztekammer ab Oktober 1943 für das AEL verpflichtete 33jährige Wilhelmsburger Arzt Dr. Heimbert Wilke ziemlich desinteressiert (er wäre ein vielbeschäftigter Arzt, u.a. stellvertretender Abteilungsleiter des Gesundheitsamts; medizinisch verantwortlich für 6000 Fremdarbeiter; eigene Praxis sowie Schulungen beim Roten Kreuz). Nach Wilkes Darstellung war im AEL alles bestens; gute Unterkünfte; gute Verpflegung; gute Behandlung der Insassen. Wenn ihm bei seinen Inspektionen etwas nicht gefiel, habe er den „Kommandanten“ davon in Kenntnis gesetzt, und die Misere wurde behoben. Wilke, der selbst nicht angeklagt war (Herr Frank behauptet allerdings das Gegenteil), aber im Verfahren als Zeuge ausgesagt hat (interniert u.a. in Neuengamme, und während der Ermittlungen als „potential accused“ eingestuft), fand beim Staatsanwalt kein Wohlwollen. Dieser forderte den Zeugen auf, die Wahrheit zu sagen, und zwar nur die Wahrheit. Es stellte sich dann daraus, dass Wilke zusammen mit anderen Beschuldigten im gleichen Internierungslager untergebracht war. Welche Bedeutung das für das Verfahren gehabt hat, erklärt sich von selbst. Wilke hat den Berichten des Sanitäters Schmidt bedingungslos geglaubt, und sah insofern keine Veranlassung sich selbst von den Zuständen im Lager zu vergewissern. Insbesondere was die medizinische Betreuung anging, hat er sich nur durch Schmidts Reporten leiten lassen. So habe er keine Häftlinge zu Gesicht bekommen, die Anzeichen von Misshandlungen aufwiesen.

Nach Ende des Prozesses wurde gegen Wilke, der seit 1933 der SA angehörte, und ab 1937 Parteimitglied in der NSDAP war, sowie im NSDÄB und NSV, erneut ermittelt, weil ein Zeuge weitere Vorwürfe gegen ihn vorgebracht hatte. Die britische Rechtsabteilung kam jedoch zu dem Ergebnis, dass man ihm kein Verbrechen nachweisen konnte. Wilke wurde daher im Dezember 1948 aus dem Internierungslager Fallingbostel entlassen.

Im übrigen erscheint die Behauptung Franks, dass sich im AEL ebenfalls chinesische Matrosen von aufgebrachten britischen Schiffen befunden hätten, als äußerst fragwürdig; nur ein Zeuge spricht überhaupt davon. Diese Seeleute wären üblicherweise in ein Kriegsgefangenenlager verbracht worden. In einer Anweisung des Chefs der Sipo und des SD vom 28.05.1941 wird darauf hingewiesen, dass die AELs „ausschließlich zur Aufnahme von Arbeitsverweigerern und arbeitsunlustigen Elementen, deren Verhalten einer Arbeitssabotage gleichkommt, bestimmt [sei] … Die Einweisung verfolgt einen Erziehungszweck, sie gilt nicht als Strafmaßnahme und darf als solche auch nicht amtlich vermerkt werden.“

Die verhafteten und im AEL internierten Hamburger Chinesen lebten schon seit längerer Zeit in der Stadt und betrieben eigene Geschäfte oder waren in der Gastronomie der Hansestadt tätig. Welchen Zweck man mit ihrer Verfolgung beabsichtigt hat bleibt unklar (der Vorwurf von Spionage erscheint als absurder Vorwand, weil es sich bei den Chinesen durchweg um ältere Männer gehandelt hat, die in der Hamburger Gesellschaft sozial integriert gewesen sind), und man hätte diese beschuldigten Chinesen wohl kaum, nachdem man sie länger als 56 Tage im AEL festgehalten hat, wieder in Freiheit entlassen. Sie wären in ein Konzentrationslager gekommen. Der eigentliche Grund für die Verfolgung und Verhaftung kann demnach nur die rassistische „Chinesen-Aktion“ vom 13. Mai 1944 gewesen sein, dessen Leitfigur der Kriminalsekretär (SS-Untersturmführer) Erich Hanisch gewesen ist. Seine menschenverachtende Mentalität weist Parallelen zu seinem Kollegen, Kriminalobersekretär Kurt Krause auf, der bereits Jahre zuvor im Mai 1940 zusammen mit seinem Assistenten Wilhelm Everding, eine „Säuberungs-Aktion“ gegen in Hamburg lebende „Zigeuner“ durchführte, die ihm auf Grund seiner Stellung als Leiter im Amt BK2 („Zigeunerdienststelle“) und seines rücksichtslosen Verhaltens, den Beinamen „Zigeuner-Krause“ einbrachte. Die Deportierten dieser Menschen-Verfolgung soll er persönlich in die Konzentrationslager begleitet haben.

Am 7. Dezember 1946 wurde Krause, der nach Kriegsende weiterhin als Oberinspektor bei der Hamburger Polizeileitstelle tätig war, von einem britischen Militärgericht zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren in Fuhlsbüttel (inkl. vorzeitiger Entlassung) wegen „Vergehen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt. Die Verhaftung von Krause erfolgte offenbar durch einen Hinweis des ehemaligen Häftlings August W., dessen Familie einst von Krause verhaftet worden war und der die Jahre 1940-45 in Konzentrationslagern verbracht hat. Nach seiner Rückkehr in Hamburg wurde ihm von der zuständigen Zentral-Betreuungsstelle die Aushändigung von Papieren verweigert (u.a. KL-Entlassungsschein, der für die Anerkennung rassisch Verfolgter unerlässlich war). Der zuständige Sachbearbeiter für W. war … Kurt Krause. Dessen damaliger Mitarbeiter Everding erhielt die gleiche Strafe und Begnadigung im so genannten „Hinselmann-Prozess“ (Hamburger Ärzteprozess der britischen Militärjustiz gegen Prof. Hans Hinselmann und vier weiteren Ärzten, die beschuldigt waren Sterilisationen an „Zigeunern“ vorgenommen zu haben). Die Kriegsverbrecher Krause und Everding wurden übrigens 1949 bzw. 1950 in ihren Entnazifizierungsverfahren als „unbelastet“ eingestuft.

Auf Grund der zahlreichen Zeugenaussagen des AEL Wilhelmsburg, ließe sich ein relativ objektives Bild des Lagers und der Personen und Verbrechen nachzeichnen, da sie in vielerlei Hinsicht von Übereinstimmungen erzählen, wie beispielsweise abschließend, dass die Verhafteten zunächst eine längere Zeit im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel verbrachten und erst im Anschluss daran an das AEL überstellt wurden. Auch hier hat der Autor Frank nur einige Aussagen herangezogen, wodurch ein verschobenes Bild entstanden ist, das seinen Artikel streckenweise als unseriös erscheinen lässt. Das Militärverfahren des AEL Wilhelmsburg ist vermutlich das einzige, in dem derart viele Aussagen von Überlebenden zur Verfügung stehen. Es bleibt unverständlich weshalb die Gedenkstätte Neuengamme diesen fehlerhaften Artikel von Tobias Frank überhaupt ungeprüft veröffentlicht hat.

Was hat nun das AEL Wilhelmsburg mit der Gedenkstätte Neuengamme zu tun?

Es gibt offizielle historische Quellen die einen Bezug zwischen dem Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg und dem Konzentrationslager Neuengamme herstellen. Da es aber an einer außerordentlichen historischen Aufarbeitung fehlt, wird sich dieses Indiz erst belegen oder widerlegen lassen, wenn den Opfern und dem Ort des Arbeitserziehungslagers Wilhelmsburg eine angemessene Anerkennung zuerkannt wird.

In dem zuvor erwähnten „Wegweiser zu den Stätten der Erinnerung in Hamburg“ ist ein interessanter Vermerk zu finden. Auf Seite 105 heißt es: Dass es zu den Aufgaben der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gehört, die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgungsstätten zu erforschen und zu vermitteln.

Dazu gehört selbstverständlich auch ein Ort des Gedenkens.


Es ist an der Zeit damit anzufangen!