Freitag, 25. September 2015

Der „Adjutant“, der keiner war

Auch in der Gedenkstättenarbeit gibt es Menschen, die sich fantastischen Geschichten hingeben. Sie schaffen sich ihr eigenes Konstrukt, das nur auf Mutmaßungen basiert, aber nicht auf Tatsachen.

So z.B. bei dem ehemaligen SS-Untersturmführer Edgar Entsberger. Es wird davon ausgegangen, Entsberger wäre Adjutant in Neuengamme gewesen. Dieser Rückschluss ist auf French MacLeans Buch „Camp Men“ zurückzuführen (die Daten zu Entsberger stammen aber nicht aus seiner SSO-Akte, die wohl nicht mehr existiert). Auf einem Foto (datiert auf August 1944), das in „Vernichtung durch Arbeit“, Katalog zur ständigen Ausstellung im Dokumentenhaus (Neuengamme), 1991, auf Seite 195 abgebildet ist, sind drei Personen zu sehen. Zum einen ein britischer Pilot, Henry Dare (s. Anmerkung weiter unten), und zum anderen, ein Adjutant, zu erkennen an seiner Achselschnur (auch „Aiguilette“ genannt, oder nonchalant „Affenschaukel“) und im Rang eines Obersturmführers der Waffen-SS, sowie ein weiterer Uniformträger von der Luftwaffe oder SD.

Dieses Foto ist Teil der Grundlage einer märchenhaften Annahme, dass es sich bei dem Adjutanten um Entsberger handelt. Derartige Behauptungen gab es vor Erscheinen des Buches von MacLean nicht. Das erwähnte Foto entstand im Garten des SS-Lagers. Die Überstellung an das KL Neuengamme diente offenbar dem Zweck der Liquidierung des Piloten. Indizien weisen zwar darauf hin, aber Beweise gibt es keine. Es könnte sich hierbei ebenso um eine Abholung des Piloten aus dem Lager gehandelt haben.

Zu diesem Zeitpunkt gab es jedenfalls nur einen Adjutanten in Neuengamme, und das war seit Spätfrühjahr 1943 Karl Totzauer. Daher muss davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem abgebildeten Obersturmführer nicht um einen Offizier des Lagers Neuengamme gehandelt hat. Vermutlich gehörte er zu dem Personenkreis, die den Piloten an das KL übergeben (oder abgeholt)  haben.

Obendrein gibt es die Aussage des ehemaligen Schutzhaftlagerführers von Neuengamme, Albert Lütkemeyer, der in seinem Verfahren 1947 ausgesagt hat, dass ein gewisser Ernstberger in der Funktion eines Adjutanten an der Erhängung von mehreren polnischen oder russischen Krankenschwestern im Spätsommer 1942 im Lagergefängnis beteiligt war. In diesem Zeitraum war jedoch Richard Baer Adjutant in Neuengamme, der von Zeitzeugen intensiver wahrgenommen wurde als der Lagerkommandant Martin Weiss selbst, wobei letzterer parallel auch kommissarischer Kommandant von Arbeitsdorf gewesen ist. Lütkemeyer ist eine von zwei mir bekannten Quellen, die Ernstberger in einen Zusammenhang zum KL Neuengamme gebracht haben. Auch eine Verwechslung scheint ausgeschlossen, da Lütkemeyer und Baer sich seit langem kannten.

Der damalige aus Halle stammende Häftlings-Lagerschreiber Herbert Schemmel sagte am 20.12.1945 aus, dass ein Obersturmführer Ensberger vom Herbst 1943 bis Anfang 1944 Adjutant in Neuengamme gewesen sei. Diese, wie auch alle anderen Aussagen vor britischen Ermittlern, wurden phonetisch wahrgenommen und niedergeschrieben. Schemmel, der über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte, hat sich hier offenbar im Jahr verirrt. Es könnte sich aber durchaus um eine kommissarische Vertretung Baers durch Ernstberger gehandelt haben, obwohl seine eigentliche Stellung zu diesem Zeitpunkt in einem anderen Lager gewesen ist, welches im Herbst 1942 unvollendet geschlossen wurde.

Einen Ernstberger, der 1942 Obersturmführer war, hat es nachweislich gegeben (KL Oranienburg-Dachau-Mauthausen-Arbeitsdorf (das ist seine Verbindung nach Neuengamme)-Gross Rosen), und gehörte eventuell zu dem Überstellungskommando, die die Rot-Kreuz-Schwestern nach Neuengamme gebracht haben. Die Ähnlichkeit dieser beiden Namen hat zu einer Mutmaßung verführt.

Es kann kein Beweis dafür erbracht werden, dass Entsberger dienstlich in Neuengamme tätig gewesen ist. Das ist auch gar nicht möglich, da er vom RFSS bereits 1934 aus der SS ausgeschlossen wurde, wegen Verbrechen im KL Lichtenburg. Dafür erhielt er fünf Jahre Gefängnis. Und eine Rückkehr in die SS war vollkommen ausgeschlossen, denn damit hätte sich nicht nur Himmler blamiert, sondern auch die zu diesem Zeitpunkt strikten Richtlinien der SS außer Kraft gesetzt. Weder Himmler, Eicke noch Hitler, der ja bekanntlich in solchen Dingen das letzte Wort hatte, wollten sich schützend für Entsberger einsetzen.

Aus Dienstaltersliste vom 1.7.1935

Trotz dieser klaren Sachlage erliegt aber dennoch so mancher „Historiker“ einem vermeintlichen Zeitzeugen, der behauptet, dass Entsberger Kommandoführer bei Fallersleben (Volkswagenwerk) im Rang eines Obersturmführers gewesen sei. Das sind zwei Absurditäten, für die eine Klarstellung notwendig erscheint: Entsberger war zu keinem Zeitpunkt Obersturmführer. Und ein Offizier war auch niemals ein Arbeitskommandoführer, bestenfalls Lagerführer o.ä. Auch das trifft nicht zu. (Ernstberger hingegen war in Arbeitsdorf Arbeitseinsatzführer)

Nach allem was bis heute über den ehemaligen Drogisten und späteren Polizisten Edgar Entsberger bekannt geworden ist, machte er nach seinem unehrenhaften Ausschluss aus der SS 1934 und der ab 1936 anschließenden fünfjährigen Haftzeit, eine Ausbildung zum Kaufmann. Im Alter von fast fünfzig Jahren wurde der Leipziger dann 1944 zur Wehrmacht eingezogen (offensichtlich eine Repressalie). Ab diesem Zeitpunkt verliert sich später seine Spur.

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Henry William Julius Dare war ein 29jähriger Flight-Lieutenant der freiwilligen Fliegerreserve der 405. Schwadron der Royal Air Force. Sein Todesdatum wird offiziell mit dem 3. August 1943 angegeben, also ein Jahr früher, als wie es im Ausstellungskatalog (s.o.) angegeben ist.

Bei diesem Piloten könnte es sich um jenen handeln, der sich an der Brookwetter in Bergedorf in einem Baum mit seinem Fallschirm verfangen hatte, und der von einem ansässigen Kohlenhändler misshandelt wurde. Die Polizei konnte den 37jährigen späteren Volkssturmmann nach Kriegsende in Gewahrsam nehmen; er wurde in Neumünster interniert. Ob er für sein Handeln zur Rechenschaft gezogen wurde, ist mir nicht bekannt.

So lange die Gedenkstätte Neuengamme in dieser Sache nicht für Aufklärung sorgt, kann es sich natürlich auch um jeden anderen Piloten der R.A.F. gehandelt haben. In der Literatur gibt es eben nur den oben erwähnten spärlichen Hinweis, der aber seit dem nie wieder aufgegriffen wurde.

Mittwoch, 9. September 2015

Befreiung oder Evakuierung?

Wenn es eine unerschütterbare Tatsache zum ehemaligen KL Neuengamme gibt, dann ist es das Fakt, dass dieses Lager NICHT befreit wurde. Eigenartigerweise ist das aber offenbar nicht jedem klar. Denn selbst die Gedenkstätte Neuengamme ist dabei etwas wankelmütig, wenn sie in ihrem aktuellen Ausstellungskatalog immer noch von einer Befreiung spricht; gleichfalls wie auf einer Schautafel beim Mahnmal.

Das KL Neuengamme ist das einzige Lager auf deutschem Boden gewesen, das nicht befreit wurde. Dafür gab es eigentlich keinen besonderen Grund. Es lag einfach an der geografischen Lage. Dieses am nordwestlichsten gelegene Konzentrationslager hatte die meiste Zeit um es vor erreichen der Alliierten zu räumen. Die Räumung begann Mitte April 1945 und war umgeben von mehreren scheußlichen Kriegsverbrechen.

Wann aber erreichte die britische Armee das Konzentrationslager Neuengamme?
Leutnant Charlton, ein Spähtruppführer im 53. Recce (Reconnaissance) Regiment, der als erster das geräumte Lager betrat, machte 1945 vor dem Ermittler Captain Freud eine schriftlich niedergelegte Aussage, die für den anstehenden ersten Prozess gegen Personal des KL Neuengamme als Beweisstück verwendet wurde. In dem Prozess sollte Charlton auch persönlich seine Aussage machen. Das Gericht hat dann aber auf sein Erscheinen verzichtet.

Charlton gab zu Protokoll: “Ich erreichte das Lager am Morgen des 5. Mai. So weit mir bekannt, war ich der erste alliierte Offizier der in dem Lager ankam.” Charlton schloss seine Aussage mit dem Satz: “Ich blieb vom 5. bis 9. Mai 1945 im Lager, und übergab es dann der Korpsführung, die es im Anschluss zu einem Kriegsgefangenenlager organisierte.”

Diese Aussage steht im Widerspruch zum Kriegstagebuch des militärischen Geheimdienstes. Dort ist vermerkt, dass das Lager Neuengamme am 2. Mai leer vorgefunden wurde. Diesen relevanten Teil des Kriegstagebuchs kann jedermann bei der Gedenkstätte Neuengamme selbst in Augenschein nehmen, und zwar an einer Schautafel an der Restmauer des ehemaligen Gefängnisses, in unmittelbarer Nähe zum Klinkerwerk - oder im Offenen Archiv.

Diese o.g. Fakten sind seit langem bekannt. Dennoch scheint es schwierig zu sein (was es auch ist) sich auf ein verlässliches Datum zu einigen. In der Literatur findet man beide Daten, manchmal auch den 4. Mai.

Die Lagergemeinschaft Neuengamme zitierte bereits 1960 in “So ging es zu Ende” das Charlton-Dokument. Detlef Hoffmann verweist ebenfalls in “Das Gedächtnis der Dinge/KZ-Relikte und Denkmäler” (1998) auf den 5. Mai für das Erreichen der Engländer im Lager, wie auch Katja Hertz-Eichenrode in “Ein KZ wird geräumt” (2000). Und Stefan Ineichen verweist weiterhin auf dieses häufig unbeachtete Datum in “Cap Arcona 1927-1945/Märchenschiff und Massengrab” (2015), sowie in einem subjektiven Zusammenhang zu den Verstrickungen des Unternehmens Oetker in der NS-Zeit (“Die Oetkers” von Rüdiger Jungbluth, 2004). Selbst der Hamburger Senat nimmt in einer Pressemitteilung von 2002 Bezug auf den 5. Mai. Die Gedenkstätte Neuengamme hingegen, wie bereits erwähnt, aktuell (2014) manifestiert den 2. Mai; dito Detlef Garbe in “Neuengamme im System der Konzentrationslager” (2015). Das ist ein kleines Wunder, denn 2002 vertrat Herr Garbe noch den 5. Mai! Es findet sich in der gesamten Neuengamme-Literatur also kaum ein Bezug zu der Aussage von Leutnant Charlton.

Es zeugt aber auch von einer gewissen Naivität zu glauben, dass wenn das Lager Neuengamme von der SS am 2. Mai 1945 endgültig (samt Häftlings-Restkommando) verlassen wurde, am gleichen Tag, nur wenige Stunden später, die britische Armee das Lagerareal erreicht haben soll.

Das deutlichste Indiz, das gegen das Erreichen der Engländer am 2. Mai 1945 spricht, ist die Aussage des ehemaligen Adjutanten von Neuengamme, Karl Totzauer. Auf die Frage des Rechtsanwalts Dr. Müller am 8. April 1946 im Neuengammer Hauptprozess, wann Totzauer das KL endültig verlassen habe, antwortete der Zeuge: “Ich rückte am 2. Mai gegen 10 Uhr abends ab.”

In den Kriegswirren Anfang Mai 1945 ist es auch wahrscheinlich, dass ein Übertragungsfehler in den militärischen Meldungen stattgefunden hat, bzw. bei der Übertragung der handschriftlichen Angaben in eine maschinegeschriebene Form.

Dienstag, 1. September 2015

Würdelose Gier

Ist es vom menschlichen Verständnis her vertretbar, wenn so genannte antiquarische Zeitdokumente zu Höchstpreisen verhökert werden, obwohl es sich dabei wissentlich um Dokumente von Menschen handelt, die sie nur aufgrund des ihnen entstandenen Leids verfasst haben?

In Antiquariaten tauchen immer wieder Zeitdokumente auf, die zu horrenden Preisen angeboten werden. Wie z.B. in Hamburg ein solcher Händler einen Brief eines KZ-Häftlings aus Neuengamme von 1941 anbietet. Dafür werden mal eben €100 verlangt (zur Erinnerung, das entspricht etwa 200! Mark).

Schlimmer wiegt aber vielleicht noch mehr, dass dadurch dieser ehemalige Häftling öffentlich zur Schau gestellt wird.


Das ist aber kein Einzelfall. Vor allem in den USA wird mit originalen Zeitdokumenten aus der NS-Zeit ein reger Handel betrieben. Diese vermeintliche "Kriegsbeute", die im großen Umfang von amerikanischen GIs "gestohlen" wurden, sind immer noch lukrative Einnahmequellen. Selbst der damalige Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, Robert Kempner, hat tonnenweise Dokumente nach sein zweites Zuhause in Amerika verbracht.

In Deutschland sollten seriöse Antiquariate vielleicht von vornherein einen anderen Weg suchen, indem sie derartige Artefakte den Gedenkstätten direkt (zu moderaten Preisen) anbieten. Damit wäre dann zumindest die Identität der betreffenden Person einigermaßen gewahrt. Das wird aber wahrscheinlich Utopie bleiben.

Die Würde eines Menschen ist eben doch antastbar.


Der Geruch des Gewinns ist gut, woher er auch kommt
(Publilius Syrus)