Mittwoch, 20. Juli 2016

Das Martyrium der Hildegard K.

Mitte Mai 1947 fand eines der letzten militärischen Gerichtsverfahren in Hamburg im Curiohaus statt. Angeklagt waren sechs Personen, drei Männer und drei Frauen, die im Neuengamme-Außenlager “Drägerwerk” in Wandsbek tätig waren. In diesem nur relativ kleinen und knapp ein Jahr bestehenden Arbeitslager mussten durchschnittlich 500 Frauen, vor allem Osteuropäer, aber auch Deutsche, Gasmasken herstellen.

Eine der Angeklagten Frauen war die ehemalige Aufseherin der SS-Gefolgschaft Hildegard K., bei Kriegsende gerade einmal 23 Jahre jung.

Gewissermaßen bestand das Wandsbek-Verfahren aus zwei Prozessen. Das erste beschäftigte sich mit den SS-Männern, die das Lager leiteten bzw. bewachten. Der zweite Teil mit den Aufseherinnen. Das Verfahren erstreckte sich über fast vier Wochen, vom 16.5.1947 bis 13.6.1947.

Die Anklagepunkte waren nicht pauschal für alle Angeklagten gültig, sondern bezogen sich explizit auf ihre tatsächlichen Tätigkeiten bzw. vermeintlichen Verbrechen (1st charge, 2nd charge etc). Deswegen trennten die Engländer in diesem Fall zwischen Frauen und Männer (innerhalb eines Verfahrens).

Dieser Prozess fällt deshalb aus dem gängigen Rahmen, weil kurz vor Verfahrenseröffnung ein Tatbestand bekannt wurde, der die britische Militärjustiz auch in einem anderen Licht erscheinen ließ - nämlich einem äußerst finsteren.

Dem damaligen Lieutenant-Colonel Gerald Draper, der in einigen Verfahren als Ankläger fungierte, war es nämlich zu Ohren gekommen, dass eine ehemalige SS-Aufseherin von ihrem britischen Vernehmer misshandelt wurde. Daraufhin machte Draper offiziell Meldung bei der Dienststelle für interne Ermittlungen der britischen Rheinarmee.

Diese Angelegenheit muss für die Briten äußerst peinlich gewesen sein, denn man strebte nun zunächst ein Verfahren gegen den Misshandler an, noch bevor der Wandsbek-Prozess beginnen sollte. Das hat aber offenbar nicht stattgefunden. Fairerweise muß jedoch gesagt werden, dass zumindest Lieutenant-Colonel Draper es für ratsam hielt keine Verschleierung in dieser Sache vorzunehmen. Es wurde in Betracht gezogen, dass die Öffentlichkeit nicht vom Wandsbek-Prozess ausgeschlossen werden sollte, obwohl Draper darauf hinwies, dass die besonderen Umstände in diesem Fall in einer geschlossenen Verhandlung durchgeführt werden sollten. Auch die Presse sollte über dieses Ereignis informiert werden. Ob das geschehen ist, müsste noch überprüft werden.

Folgendes war geschehen. Am 21. August 1945 wurde Frau K. von der Kriminalpolizei verhaftet und im Polizeigefängnis Hütten arrestiert. Wenige Tage später wurde sie dann eines späten Nachmittags beim britischen Geheimdienst in der Hamburger Innenstadt von einem niederrangigen britischen Soldaten, einem gewissen Serjeant Dow vernommen. Nach der Vernehmung sollte Frau K. im Untergeschoss warten. Als gegen 19.00h alle anderen Vernehmungen abgeschlossen waren, rief dieser Serjeant Frau K. erneut in sein Büro. Er machte der jungen Frau deutlich, dass sie aufgrund schwerwiegender Verbrechen mit einer Strafe von mindestens zwei Jahren Gefängnis rechnen müsse. Dem könnte sie allerdings entkommen, wenn sie einer, wie der Serjeant es nannte, “Körperstrafe” zustimmen würde. Sie dürfe aber niemanden davon erzählen. Im Angesicht ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft und der Angst ihr Kind im Gefängnis zur Welt bringen zu müssen, stimmte Frau K. der Züchtigung zu. Die Frau musste sich nun nackt ausziehen, und der Serjeant legte sie über sein Knie und versohlte ihr wie wild den Hintern, so dass die arme Frau Blutergüsse davon trug. Danach erhielt sie einen Entlassungsschein und durfte nach Hause gehen.

Eine gute Woche später sollte sich Frau K. erneut bei der FSS (Field Security Section = Militärpolizei) am Alsterufer melden. Sie kam wieder in das gleiche Büro, zu dem gleichen Serjeant, der dann zu ihr sagte, dass sie nicht genug bestraft worden sei, und dass die Bestrafung für die folgenden fünf Wochen fortgesetzt wird. Die schwangere Frau brach daraufhin zusammen und sagte, dass sie das nicht durchhalten könnte. Daraufhin meinte der Serjeant, sie könnte die gesamte Strafe auch auf einmal bekommen. Sie musste sich dann wieder ausziehen und wurde zunächst mit der flachen Hand wie zuvor geschlagen und danach noch mit einer Reiterpeitsche die auf dem Schreibtisch bereit lag.

Ob Frau K. ihr Baby durch diese “Körperstrafe” verloren hat, ist nicht überliefert.

Dieser Bericht einer sadistisch-perversen eigenmächtigen Folterung einer schwangeren Frau durch einen britischen Soldaten, wurde von dem Ermittler Clement Freud im November 1946 verfasst (zu dieser Zeit selbst erst 21 Jahre jung), die auch dem vorsitzenden Präsidenten John Glendinning im Wandsbek-Prozess als Beweisstück vorgelegt wurde.

Frau K. wurde aufgrund ihrer zweiten Schwangerschaft erst am 18. März 1947 erneut verhaftet, eine Woche nach ihrer Niederkunft. Ihr Baby musste sie am darauffolgenden Tag in fremde Hände geben. Der Säugling wurde dann der Schwester der K. vorübergehend in Obhut gegeben.

Frau K. wurde im Wandsbek-Prozess bezichtigt Zwangsarbeiterinnen misshandelt zu haben. Von der Zeugin Ruth Schemmel (die zusammen mit einer Gruppe von Frauen aus dem Stammlager Neuengamme Mitte April1945 nach Wandsbek kam), wurde sie mehrfacher Vergehen belastet, obwohl die Zeugin selbst nur äußerst kurze Zeit in diesem Arbeitslager gewesen ist, und sie die einzige war, die die Beklagte überhaupt derart beschuldigte. Andere Zeugen hatten von der K. einen positiveren Eindruck. Für eine Zeugin war nicht vorstellbar, dass sie überhaupt gewalttätig sein könnte; eine weitere Zeugin attestierte der K. bei Appellen zwar, dass sie Ohrfeigen aus Gründen der Disziplin vergeben hätte, aber diese Zeugin empfand das nicht als Misshandlung. Frau K. selbst gab zu mit einem Stock oder Gummiknüppel für Ordnung in ihrem Lagerbereich gesorgt zu haben, aber auch um sich vor Übergriffen der Häftlinge zu schützen. Der Ermittler Freud, der die K. mehrfach in St. Pauli bei ihrer Freundin aufsuchte, hatte den Eindruck, dass Frau K. nicht in der mentalen Verfassung zu sein schien ein Kriegsverbrechen begangen zu haben.

Am Ende des Verfahrens wurde Frau K. freigesprochen.

Der Freispruch von Frau K. und einer weiteren Angeklagten ist entweder auf eine Reihe von Verfahrensfehler zurückzuführen, wie es der zuständige Staatsanwalt Armstrong nach dem Wandsbek-Prozess in einem offiziellen Schreiben an Lieutenant-Colonel Draper deutlich machte. Oder aber wahrscheinlicher ist es, dass der Freispruch von Frau K. im engen Zusammenhang zu der ihr widerfahrenen Misshandlung erfolgte.

Während des Prozesses machte der Rechtsanwalt von Frau K. im Kreuzverhör des britischen Ermittlers Clement Freud (ein Enkel von Siegmund Freud), der inzwischen zum Leutnant befördert worden war, auf die Misshandlung seiner Klientin durch einen britischen Ermittler aufmerksam. Offiziell hatte das angeblich auf das Verfahren jedoch keinen Einfluss. Clement Freud erzählte während seiner Befragung im Zeugenstand, dass die K. ihm von der Misshandlung durch Serjeant Dow berichtete, wovon Freud dann einen Bericht für seinen Vorgesetzten erstellte. Weiterhin erklärte der Zeuge, dass der Entlassungsschein, den die K. nach der Züchtigung durch Dow erhalten hatte, offenbar eine Fälschung war; weder ein offizieller Stempel noch ein Datum waren auf dem Dokument feststellbar.

Im Januar 1947 gebar Frau K. einen Jungen. Wenige Wochen vor der Prozesseröffnung starb das Kind.

Ob Serjeant Dow, der wegen seines eigentlichen Namens Doppelbaum vermutlich ein Emigrant aus dem deutschsprachigen Raum gewesen ist, jemals für sein abartiges Handeln juristisch belangt wurde, ist mir nicht bekannt. Die Indizien sprechen jedoch dagegen, weil Dow Anfang 1947 aus der britischen Armee entlassen wurde. Bis dahin waren offenbar keinerlei Untersuchungen gegen ihn vorgenommen worden und eine Anklage vor einem Kriegsgericht war damit nicht mehr möglich. Dow wurde lediglich disziplinarisch belangt, indem er einen Verweis erhielt, und an eine andere beaufsichtigte Dienststelle versetzt wurde. Außerdem wurde es ihm verwehrt für die Kontrollkommission für Deutschland (CCG) im zivilen Bereich tätig zu werden.

Diese furchtbare Angelegenheit wäre wahrscheinlich überhaupt nicht bekannt geworden, wenn Frau K. ihrer späteren Bekanntschaft, einem schottischen Soldaten, nicht von ihrer Tortur erzählt hätte, und dieser dann die zuständigen Behörden darüber informiert hat.

Die britische Militärjustiz beabsichtigte, nachdem diese Unsittlichkeit bekannt geworden war, Frau K. gar nicht anzuklagen. Lieutenant-Colonel Draper machte nämlich im Vorlauf des Prozesses seinem Unmut Luft, dass es insgesamt nur dürftige Beweise für ein erfolgreiches Verfahren geben würde. Hauptsächlich die Mordtaten gegen die männlichen Angeklagten hätten Aussicht auf Erfolg. Frau K. nicht anzuklagen stieß aber anscheinend auf einigen Widerstand innerhalb der Kompetenzebene der Staatsanwaltschaft. Insofern ist der Freispruch der K. aus heutiger detaillierter Sicht nicht zu beanstanden.

Noch eine letzte Anmerkung zur Schwangerschaft von Frau K. Es ist nicht eindeutig den Unterlagen zu entnehmen, ob sie während der Misshandlung tatsächlich schwanger gewesen ist. Es gibt zwar Hinweise darauf, jedoch kann es sich hierbei auch um Missverständnisse zwischen den einzelnen zuständigen Stellen gehandelt haben. In einem vertraulichen Schreiben von Brigadier Henry Shapcott vom 28.02.1947 schreibt er bzgl. der Misshandlung durch Sjt. Dow, “… and that this occurred at a time when she was eight month pregnant.” An anderer Stelle vom gleichen Tag, ebenfalls von Shapcott, schreibt er “occurred at an earlier stage of her pregnancy; …” M. E. deutet es hier in beiden Dokumenten darauf hin, dass Frau K. während ihrer Peinigungen schwanger war.