Freitag, 31. August 2012

Geissel der Menschheit


Im Vorfeld zur Veröffentlichung von Lord Russels Buch „Geissel der Menschheit“ gab es in England einige Unruhe auf hoher politischer Ebene. Aus Regierungskreisen wurde Russel aufgefordert sein Buch nicht zu veröffentlichen oder aber sein Amt wäre gefährdet bzw. wurde ihm nahe gelegt zurückzutreten. Der Lord ließ sich nicht einschüchtern, und so erschien 1954 sein Buch unter dem Originaltitel „The Scourge Of The Swastika“ - und Lord Russel of Liverpool trat unverzüglich von seinem Amt zurück.

Es bleibt bis zum heutigen Tage unklar, warum dieses zunächst harmlos scheinende Buch nicht erscheinen sollte. Politisch betrachtet war dieses Buch nicht gerade brisant, die von Russell geschilderten Ereignisse an Nazi-Kriegsverbrechen waren schließlich Fakt und von höchster militärischer Instanz initiiert worden. Möglicherweise liegt genau dort der sagenumwobene Knochen begraben. Zunächst aber zum Inhalt des Buches.

Lord Russell war unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einer der höchsten militärischen Rechtsberater. Ihm wurden Prozessunterlagen vorgelegt, über die er eine Empfehlung an den Obersten Befehlshaber der Britischen Rheinarmee abzugeben hatte, der wiederum hatte das letzte Wort darüber, ob ein Kriegsverbrecher begnadigt oder seinem Rechtsspruch überlassen wurde. Allerdings unter dem Aspekt, daß dieser Befehlshaber kein Jurist war, und dennoch wurden Urteile von ihm revidiert. Ein Grund dieses Buch zu verhindern?

Russell erzählt von den unzählbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Davon, daß die Nationalsozialisten die Sitten und Gebräuche des Krieges ignorierten, ebenso die Haager oder Genfer Konventionen mit Füßen traten. Diese Verbrechen, die von der Militärjustiz verhandelt wurden, und die Russell vorgelegt wurden, sind die Basis dieser Erzählstudie. Neuengamme ist natürlich auch ein Bestandteil, wenn auch nicht gerade besonders ausführlich wie z. B. Ravensbrück. Aber die Frage die sich mir beim Lesen permanent aufgedrängt hat war, ist es überhaupt legitim gewesen über diese Verbrechen zu berichten, denn zu dem Zeitpunkt der Mittfünfziger Jahre waren diese Akten bereits gesperrt, teilweise sogar bis zum Jahre 2024, also ein ganzes Menschenleben. Das war der Versuch der britischen Regierung, diejenigen zu schützen, die in derartigen Prozessen nicht abgeurteilt wurden, oder aber in Prozessen leibhaftig der Öffentlichkeit vorgeführt wurden, ohne daß sie jemals selbst angeklagt worden sind. Die Versiegelung dieser Akten hat sich inzwischen zwar grundlegend geändert, die meisten Akten sind zugänglich, aber 1954 war das für die Öffentlichkeit oder der Wissenschaft überhaupt nicht so. Ein weiterer Grund dieses Buch zu verhindern?

1955 erschienen in West- und Ost-Deutschland die deutschsprachigen Übersetzungen. Der so genannte antifaschistische Röderberg-Verlag in Frankfurt legte vor, und der Verlag Volk und Welt der DDR übernahm die unveränderte westdeutsche Fassung im gleichen Jahr. Russell mahnt in seiner kurzen Einleitung der westdeutschen Ausgabe die ungeheuerlichen Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg an, und will vor allem dem deutschen Volk diese Verbrechen vor Augen führen, da er glaubt, sie würden darüber wenig erfahren haben, und das sich derartiges nicht wiederholen dürfte. Das Vorwort in der ostdeutschen Ausgabe ist anders; der Tenor ist ähnlich, aber nicht mahnend. Russel geht auf die Nürnberger Prozesse ein und bedankt sich bei einigen Personen für ihre Unterstützung. Diese Intentionen deuten aber nicht zu einem Grund zur Verhinderung dieses Buches hin.

Das wahre Motiv für Russells Buch und die politiche Beeinflussung der Veröffentlichung wird vielleicht nie ans Licht kommen. Russell verstarb 1981.

Im „Daily Express“ von August 1954 sagt Russell, „daß ein Versuch unternommen wurde, die historische Wahrheit aus politischen Gründen zu zensieren …“ Dem Lord wurde vorgeworfen, sein Buch entspräche nicht den Tatsachen und sei demnach nicht als historisch anzusehen. In „Neues Deutschland“, das ostdeutsche Sprachrohr des angeblich demokratischen Staates, schrieb ebenfalls im August 1954, über eine tendenzielle Proklamierung in Richtung wiedererwachtem Faschismus in Deutschland. Das Motiv, dieses Buch aus Gründen von Faschismus nicht publiziert zu sehen, ist nicht nachvollziehbar, entspricht aber der zeitgenössischen Essenz politischer Organe im damaligen Ostdeutschland.

Leider gibt das Buch über Russell selbst, als der Oberste Militärische Rechtsberater, keine Auskunft über ihn her. Auch die Quellen der zahlreichen Berichte werden nicht preisgegeben. Es werden nur Namen genannt, die bereits in Kriegsverbrecherprozessen öffentlich gemacht wurden. Daher entsteht für den unkundigen Leser der Eindruck von einem unseriösen Referat. In seinem Buch werden zwar einige Dinge nicht richtig dargestellt, aber das sind vor allem Sachen die jenseits der Verbrechen liegen, wie z.B. die Erklärung zur Bewachung der Konzentrationslager, „Es war eine ihrer abscheulichen Aufgaben, das Personal für die Konzentrationslager zu stellen, und fast alle Wachmannschaften dieser Lager kamen aus den Reihen der Allgemeinen SS.“ Tatsächlich war es ab Kriegsbeginn die Waffen-SS, die diese Aufgaben ausschließlich bis zum Spätsommer 1944 ausgeübt haben. Auch darf man die Zeit nicht vergessen, als dieses Buch erschien, wo vieles noch nicht bekannt gewesen ist. Andererseits geht aus dem Neuengamme-Prozess dieses Faktum mehr als deutlich hervor.

Russel geht auf die einzelnen Kriegsverbrecherprozesse nicht ein. Im Kontext zum Neuengamme-Prozess vom Frühjahr 1946, wurde dem Rechtsratschlag von Russell stattgegeben; die vierzehn Urteile wurden in der Form vollstreckt, wie sie im Prozess bereits verkündet worden waren.

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