Sonntag, 29. November 2015

Besucherzahlen

In der Vergangenheitsgeschichte des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme war immer wieder die Rede von einem „vergessenen“ oder „unbekannten“ Lager. Inzwischen hat sich das grundsätzlich geändert, weil sich Neuengamme in einer Weise weiterentwickelt hat, die man als positiv bewerten muss, wenngleich es auch ein schwieriger Weg gewesen ist. Die Gefängnisse haben wesentlich dazu beigetragen, dass Menschen sich gescheut haben diesen Ort aufzusuchen, zumal selbst das immer wieder mit Schwierigkeiten verbunden war. Daher waren die Besucherzahlen seinerzeit in einem Bereich angesiedelt, den man als wenig bedeutsam bezeichnen kann.

Seit zehn Jahren gibt es nun eine Gedenkstätte, die sich diese Bezeichnung auch verdient hat, und die durch eine erforderliche Umgestaltung mit Ausstellungen, Archiv, Verwaltung etc zentral auf dem Gedenkstättengelände untergebracht ist (zuvor gab es nur „Asyl-Container“, in denen die Mitarbeiter der Gedenkstätte einquartiert wurden). Diese Umgestaltung bedeutet natürlich auch mehr Attraktivität für die Besucher.

Das Gelände lässt sich selbständig erkunden (indes ist es neuerdings verboten das Gelände mit Fahrrädern zu befahren. Gegenüber den Besuchern ist das eine nicht hinzunehmende Intoleranz), oder man lässt sich von so genannten „Guides“ (ein ziemlich dämliches Wort; weil die Mitarbeiter der Gedenkstätte ein Problem mit dem Wort „Führer“ haben) die verschiedenen Anlaufpunkte erklären. Das bekommt man allerdings nicht für lau. Jedoch gibt es auch kostenlose Angebote von verschiedenen Institutionen. Oder man nutzt die sonntäglichen thematischen Führungen, die ebenfalls kostenfrei sind. Allerdings wird jeder feststellen können, je häufiger dieses Angebot in Anspruch genommen wird, dass diese thematischen Rundgänge sich meist nicht bzw. nur bedingt ums eigentliche Thema drehen. Wenn beispielsweise „Juden“ das Thema sind, dann ist es praktisch ausgeschlossen darüber zwei Stunden oder länger zu lamentieren. Einfach deswegen, weil es im KL Neuengamme verhältnismäßig wenige Juden gegeben hat; ab Herbst 1942 überhaupt keine mehr. Erst ab 1944 gab es wieder Juden in Neuengamme, die meisten von ihnen allerdings in den Außenlagern.

Das Thema „Lager-SS“, das gelegentlich auch angeboten wird, ist schwierig. Entweder kommen kaum Besucher zu einer solchen Führung, weil sie befürchten durch ihr Interesse stigmatisiert zu werden. Oder aber die Führung ist derart plump gestaltet, dass man mit den Interessierten einfach in die „Ausstellung“ zur Lager-SS geht (dazu bedarf es jedoch keiner Führung). Und auch gezielte Fragen werden nicht oder nur oberflächlich, oder unwissend beantwortet. Dass bei Gedenkstätten dieser Art die Opfer im Vordergrund stehen müssen, erfordert keine Rechtfertigung. Sich aber nicht den Tätern angemessen zu widmen, zeigt sich nicht nur in der mangelhaften Darstellung auf dem Gelände, sondern auch in der unzureichenden Vorstellung in den ehemaligen SS-Garagen, als auch in der Fachliteratur. Dass das wiederum nicht so sein muss, hat z.B. die Gedenkstätte Sachsenhausen mit ihren Publikationen deutlich herausgestellt. In Neuengamme gibt es aber immer noch die dezimierte Haltung, den ehemaligen Angehörigen der Lager-Kommandantur kein Podium zu bieten. Für das historisch-geschichtliche Verständnis ist das allerdings der falsche Weg. Auf diese Weise kann man den Besuchern wenig davon vermitteln, wie das „Verhältnis“ zwischen Häftling und Bewacher tatsächlich gewesen ist.

Zahlen stellen für die Gedenkstätte Neuengamme offenbar etwas machtvolles dar. Denn als man 2014 die Grenze der Besucherzahl von 100.000 überschritt, war man darauf ziemlich stolz. Durch die Besucherzahl wird oder soll vermittelt werden, dass die Gedenkstätte gute Arbeit leistet. Das lässt sich aber m.E. nicht an den Besucherzahlen messen, weil damit suggeriert wird, dass alle Besucher aus eigenem Antrieb die Gedenkstätte aufsuchen würden.

Die Zahlen der Besucher sind im „Jahresbericht 2014“ veröffentlicht worden. Demnach besuchten 102.322 Menschen die Gedenkstätte Neuengamme und ihre Außenstellen, d.h. 94.594 davon besuchten Neuengamme direkt. Die größte Besuchergruppe jedoch stellen die Schulklassen mit 37.965 Schülern dar. Diese Zahl in die Besucherstatistik einfließen zu lassen ist jedoch irreal.

1613 Schulkassen (das entspricht durchschnittlich 23 Schüler per Gruppe) besuchten 2014 die Gedenkstätte Neuengamme. Diese Besuche sind aber forciert, weil hier niemand von freiwilliger Selbstbestimmung reden kann. Dabei darf nicht ungeachtet bleiben, dass die Schulklassen einen immer höherwerdenden Anteil an fremd-ethnischen Schülern zu verzeichnen haben. D.h. dieses besondere Kapitel der deutschen Geschichte, ist nicht die Geschichte der nicht deutschstämmigen Schüler. Ihnen fehlt der Bezug zu diesem Geschichtskapitel. Deswegen interessiert sich der Grossteil von ihnen auch nicht dafür. Oder man könnte auch sagen, die vermeintlichen Zuwanderer werden zur Ausschmückung von Statistiken missbraucht. Während meiner jahrelangen Gedenkstättenarbeit hat es sich gerade so konstatiert. Von den Menschen, die ich über die Geschichte von Neuengamme aufgeklärt habe, waren weniger als 1% nicht deutschstämmig. Hinzu kommt dann noch, dass die Pädagogen ihre Schulklassen entweder gar nicht oder nur unangemessen vorbereiten. Oder wie soll man sich Äußerungen erklären, wenn Schüler bei der Ankunft in Neuengamme hitzig fragen: „Wo sind denn hier die Gaskammern?“

Worauf man überhaupt keinen Wert in Neuengamme zu legen scheint, ist das Alter der Kinder und Jugendlichen. In Polen ist das beispielsweise gesetzlich geregelt, dass Kinder bis dreizehn Jahre eine Gedenkstätte wie Stutthof oder Auschwitz nicht betreten dürfen. Das zeugt von einem hohen Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Sensibilität eines Kindes.

Die Gesamtbesucherzahl von Neuengamme muss differenzierter gemustert werden. Abzüglich der Schulklassen bleibt eine realistische Zahl von insgesamt rund 65.000 (für 2014) die sich unaufgefordert der Geschichte stellen und sich damit auseinander setzen wollen. Alles andere ist nur eine farblose Beschönigung.